Mit gebanntem Blick starre ich nach oben. Zwar bin ich als Dritte in der Seilschaft „nur“ diejenige, die das Seil sortiert, trotzdem halte ich es mit beiden Händen fest, als würde die Welt untergehen, wenn ich jetzt losließe. Anna, die gerade eben noch am Seil hin und her baumelte, ist schon wieder an der Wand und schlägt unerschrocken den nächsten Routenabzweig ein. Der sieht, von unten betrachtet, genauso wenig vielversprechend aus. Ein Haken scheint nicht in Sicht zu sein. Einige provisorische Schlingen ragen in bunten aber verwaschenen Farben aus der Wand. Nichts davon ist für eine zuverlässige Sicherung zu gebrauchen. Unsere Zurufe ändern sich von „Du schaffst das“ zu „Du musst das nicht unbedingt riskieren, wenn du dir unsicher bist“, um schließlich gänzlich zu verstummen. Fieberhaft sucht Anna (und wir mit ihr) nach einer Stelle, an der sie eine Sicherungsschlinge anbringen könnte. „Ich gehe weiter hoch, da drüben könnte was sein“, sagt sie und wagt wenig später den nächsten sehr schmalen Tritt. „Der Griff ist gut, mir geht’s viel besser!“ Hörbar atme ich aus.
Unsere Pfingstausfahrt 2020 hing von Anfang an am seidenen Faden. COVID-19 war über uns alle wie eine Mischung aus einem surrealen Zombi- und Katastrophenfilm hereingebrochen. Uns wurde relativ schnell klar: „Pfingstausfahrt können wir dieses Jahr wohl vergessen.“ In einer letzten sehnsüchtigen Umklammerung unserer Kletterträume, auf die wir uns das ganze Jahr gefreut hatten, wurde daraus ein kämpferisches „Wir holen die Pfingstausfahrt einfach nach, sobald es wieder möglich ist.“ Entlang der Fallzahlen-Berg-und-Tal-Fahrt hatte sich unsere ursprüngliche Gruppenkonstellation in „das-wird-dieses-Jahr-sowieso-nix-mehr“-Kommentaren zerstreut. Dennoch, nach vielem Hoffen und Bangen sowie mehrmaliger erneuter Planung und doch wieder Verschiebung, waren wir nun als kleinere Truppe im Schwändital am Brüggler in der Schweiz angekommen. Damit hatte eigentlich kaum noch jemand gerechnet. Umso schöner, dass wir nun im September, bei schönstem Wetter, die für das Klettergebiet bekannten Mehrseillängen mit einem Teil der alten JuMa-Kernmannschaft in Angriff nehmen können.
Dabei war Corona nicht das einzige Hindernis, welches wir zu überwinden hatten. Nach spontanem Beschluss, dass eine einwöchige Tour möglich sei, mussten kurz vor Abfahrt alle Pläne nochmals umgeworfen werden. Das Wetter wollte nicht mitspielen, und wir konnten das ursprüngliche Ziel nicht anfahren. In Erwartung, eventuell nur einen verregneten Campingausflug vor uns zu haben, entschlossen wir uns zu einer dreitägigen Tour in die Schweiz. Diese Entscheidung entsprach dem großen Wunsch, zumindest wieder etwas Zeit mit der Klettergruppe zu verbringen.
Da der erste dieser spontanen Tage vorhersagetechnisch das beste Wetter versprach, waren wir gefühlt mitten in der Nacht aufgestanden und hatten uns auf den Weg gemacht, um möglichst früh an der Wand zu sein. Pustekuchen! Das nächste Hindernis erwartete uns schon am Fuß der Passstraße. Und das hatte mit Kuchen nicht viel zu tun, sondern im entfernteren Sinne eher mit Käse. Der enttäuschte Ausdruck in den Augen von Felix verriet uns, dass er im Gespräch mit dem Ortsansässigen keine gute Nachricht erfahren hatte: „Heute ist Almabtrieb, hier kommt bis zum Nachmittag keiner mehr durch!“ Und wieder geriet unser Traum vom Kletterabenteuer ins Wanken. Positiv bleiben und nicht gleich aufgeben ist aber unsere Devise bei der JuMa. Und wann bekommt man schon die Gelegenheit, bei einem echten Almabtrieb dabei zu sein und dabei Käse zu essen, der vermutlich aus der Milch von genau diesen Kühen hergestellt wurde? Eben. Normalerweise gar nicht.
Feste Planung ist in diesem verrückten Corona-Jahr einfach nicht das, womit man weiter kommt, sondern eher mit Spontanität, Durchhaltevermögen und Kreativität. Und damit erreicht Anna an der Wand, nach einigen kleineren Schweißausbrüchen von Marie und mir und mit einer Crashkursanleitung im kreativen und vor allem sicheren Schlingenbauen, doch den nächsten vertrauenswürdigen Haken. Der Rest der Route verläuft ohne Probleme und wir können oben wohlverdient die Aussicht genießen. Das wunderschöne Schwändital liegt unter uns, als wir uns auf den gemächlichen Abstieg zum Zeltplatz begeben, um unsere Abenteuer beim provisorischen aber superleckeren Abendessen mit den anderen zu teilen. Wir alle werden noch lange von diesem Abenteuer zehren. Durch die nächste Lockdown-Etappe schaffen wir es damit auch noch und freuen uns auf die nächste Pfingstausfahrt. Völlig egal, wann auch immer diese denn nun genau stattfinden mag.
Josephine Brandes